Homolka AHAS 6nem

Jaromír HOMOLKA
 
Zu einem Motiv der Schönen Madonnen
 
Der Aufsatz ist einem besonderen Motiv gewidmet: und zwar dem antiklassischen, dynamischen und labilen Motiv des Kindes, das von Maria über ihrem Spielbein getragen wird. Allerdings begreifen wir dieses Motiv lediglich als die auffälligste Komponente einer auf Gegensätzen basierenden Standbildkonzeption, einer dynamischen und labilen Konzeption, die man summarisch als eine dynamische Einheit der Gegensätze charakterisieren kann. Diese historisch neue Standbildstruktur wird in vollendeter Gestalt von der schönen Madonna von Thorn verkörpert, eine der gelungensten und bedeutendsten Skulpturen des Schönen Stils und der europäischen Bildhauerkunst gegen Ende des 14. Jahrhunderts überhaupt.
 
Das Motiv des Kindes über Marias Spielbein kommt in der älteren europäischen Plastik nur vereinzelt vor. Albert Kutal hat deshalb die Vorstufe zur Thorner Madonna in der Madonna aus der Jakobskirche in Brünn gesehen (nach 1350), während Gerhard Schmidt der Meinung war, der Autor der Thorner Madonna habe zu vereinzelten Beispielen aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts gegriffen (französische Madonna aus Abbéville, deutsche Madonna in Magdeburg; beide von Schmidt um 1270 datiert); nach Schmidt habe es sich also um einen gewissen Historismus gehandelt. Demgegenüber suchte Hans Peter Hilger den Ausgangspunkt in der Engelsplastik (Orgel spielender Engel) auf dem Baldachin über der Statue des Apostels Jakob und in dem Apostelzyklus an den Chorpfeilern des Kölner Doms (ca. 1270–80). Diese Hypothese ist um so gewichtiger, als der Engel weder der Thorner Madonna noch jener Standbildkonzeption so ganz fremd ist und der Apostelzyklus für den europäischen Stammbaum des Schönen Stils augenscheinlich nicht ohne Bedeutung war (Hilger selbst verglich beispielsweise die hl. Anna aus Nová Říše mit den Kölner Aposteln Simon und Paulus) und die Kontakte zwischen den Prager Parlern und der Kölner Dombauhütte zahlreich und offensichtlich auch relativ dauerhaft waren.
 
In unserem Aufsatz haben wir sodann auf einen weiteren bemerkenswerten Umstand aufmerksam gemacht: zwischen der Brünner Holzmadonna (nach 1350) und der Thorner Madonna (vor 1390, möglicherweise um 1385) gibt es nämlich in der böhmischen Schnitzerei fünf weitere Beispiele für die Verwendung unseres oben angesprochenen Motivs. So die stehende Madonna in Hrušky bei Brünn (etwa um oder nach 1350), die noch mit dem Stil des Meisters der Michler Madonna zusammenhängt, der Gründerpersönlichkeit der böhmischen Plastik des 14. Jahrhunderts. Weitere Beispiele stammen aus der sehr individuellen Richtung der Prager Schnitzerei, die sich um und unter dem Einfluß der Hofmalerei (Meister des Luxemburger Stammbaums und seine Werkstatt, Meister Theodoricus, Buchmalerei) und der Plastik (Madonna des Altstädter Rathauses aus der Zeit um 1360–1365, Plastik der Prager Dombauhütte St. Veit) entfaltete. Hierher gehören die bemerkenswerte thronende Madonna in Hrádek bei Benešov, offensichtlich aus den 1360er Jahren, bei der das Kind über dem Spielbein Bestandteil eines malerischen und deutlich dynamischen Reliefs ist. Und ebenso die ihr nahekommende (Werkstatt oder Umkreis?) thronende Madonna aus Rödelwitz in Thüringen – gleichfalls ein Zeugnis für die Internationale Reichweite dieser Stilrichtung der Prager Schnitzerei. Die nächsten und jüngeren beiden Beispiele sind unseres Erachtens bereits Arbeiten, die aus der Parlerschen Dombauhütte hervorgingen (im Rahmen ihres Schaffens wird die Schnitzerei noch immer unbegründet unterschätzt). Es handelt sich um die stillende Madonna aus Konopischt und eine kleinere stehende Madonna aus Westböhmen, heute in den Sammlungen des Bayerischen Nationalmuseums München – Arbeiten, die wir eingehender analysiert haben. In einer brillanten Analyse hat Hans Peter Hilger unsere ältere Vermutung untermauert, daß die westböhmische Madonna noch vor der Thorner Madonna entstand und demzufolge deren Vorstufe ist.
 
Ferner haben wir diese neue, dynamische und labile Statuarik analysiert, die auf Gegensätzen beruht, darunter auch auf dem zwischen Figur und großer linearplastischer Draperie (Prinzip von Kern und Schale als zweifacher Form). Und wir haben versucht zu zeigen, daß erst die Bildhauer der Prager Veitshütte, deren hervorstechende Künstlerpersönlichkeit Peter Parler war, besagtes Motiv zum organischen Bestandteil einer bedeutenden Lösung für Plastiken gemacht haben. Daß es dabei um eine Problematik künstlerischen Ausmaßes ging, die für das Schaffen der Prager Hütte typisch war, deutet auch die Tatsache an, daß die Anwendung verwandter Kunstprinzipien auch in der Architektur Peter Parlers, besonders seit etwa 1370 festzustellen ist: das Studium gemeinsamer Beziehungen zwischen Architektur und Plastik gewinnt somit an besondere Wichtigkeit. Mit der schönen Madonna von Thorn war diese historisch neue Statuarik "endgültig" festgelegt, gestalterisch durchdacht und formal vollendet. Die schöne Madonna von Krumau, auf denselben oder verwandten Prinzipien beruhend, kann dann als Variante der Thorner Madonna verstanden werden.
 
Die schöne Madonna von Thorn verleiht auf rein bildhauerische, also visuelle Weise einer entsprechenden ikonographischen Idee Ausdruck, wobei sie aber zugleich die Grenzen dieser Ikonographie überschreitet und eine Konzeption bietet, die auch weiterhin lebensfähig ist. In diesem kurzen Beitrag haben wir versucht, zumindest andeutungsweise klar zu machen, daß sich gerade durch diese Statuarik die böhmische und mitteleuropäische Plastik bereits um 1400 am deutlichsten von der Pariser und der fränkisch-flämischen Bildhauerkunst unterscheidet. Die historische Bedeutung dieser neuen und ihrem Charakter nach in der Tat spätgotischen Standbildkonzeption ist schon daraus ersichtlich, daß nach den existierenden Vorstufen ihre Häufigkeit seit der Thorner Madonna massiv anstieg. Albert Kutal hatte genau hingeschaut, als er sagte, daß sie von hier an "mit einer Konsequenz erscheint, die bewußt die gesamte Tradition der europäischen Bildhauerkunst verleugnet". Freilich bedeutete dies zugleich die Gründung einer neuen und beträchtlich spezifischen Tradition. Ihre Entwicklung wird markiert – und hier beschränken wir uns nur auf ein paar Beispiele – durch die Franziskaner-Madonna in Salzburg, durch das Werk des Wiener Jakob Kaschauer oder das Frühwerk von Hans Multscher. Es geht um eine Tradition, die man nach allem bis hin zur berühmten Madonna von Dangolsheim verfolgen kann (um oder vor 1462), einem der Ausgangswerke der eigentlichen Spätgotik. (Bereits W. Pinder sah in ihr die "letzte schöne Madonna".) Die Prager Parler-Hütte erweist sich somit als eine der stärksten Quellen der Spätgotik nicht nur in ihren Werken der Architektur, sondern auch in denen der Plastik.