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Harald TESAN

Pablos Michelangelo. Neues zur Vorgeschichte des Kubismus

Picassos Auseinandersetzung mit der Kunst Michelangelos fand bislang nur wenig Beachtung. Der vorliegende Beitrag unternimmt den Versuch einer Revision der Genese von Picassos vorkubistischem Werk. Das Leitmotiv einer andauernden Zerstörung normativer Klassik wurde bekanntlich zum Markenzeichen des spanischen Künstlers. Es erscheint unter dem Blickwinkel von Picassos Michelangelo-Rezeption in einem neuen Licht.

Der erste Teil nähert sich dem Thema textkritisch an. Wie sich zeigt, sind populär gewordene Aussprüche Picassos in der kunsttheoretischen Diskussion des 16. Jahrhunderts vorweggenommen. Der betreffende Diskurs entzündete sich noch zu Lebzeiten Michelangelos und behandelte nichts Geringeres als das moderne Problem der Freiheit von Kunst. Eine von Vasari begründete literarische Topik lebte weiter in der Genieliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts. Auch sie beschrieb den Künstler als selbstherrlichen alter deus, der in der Neuerschaffung des Kosmos seine Allmacht erfährt. Nicht nur das Beispiel der Schriften von André Malraux wirft die Frage auf, ob sich Pieasso schon frühzeitig einer michelangelesken Ausdrucksweise bediente, um im französischen Umfeld als Avantgardekünstler eigenes Profil gewinnen zu können.

Der zweite Teil spürt deshalb der Wirkung Michelangelos auf die Malerei und Skulptur Picassos bis zu Les Demoiselles d’Avignon nach. Bereits während der Blauen Periode erweisen sich El Greco und Auguste Rodin als Vermittler, durch die Picasso der Kunst Michelangelos in “modern” aufbereiteter Form begegnete. Eine Schlüsselstellung kommt den Sich kämmenden Frauen zu. Die primitivismusbegeisterte Picasso-Forschung wollte die während und kurz nach der sogenannten Periode Gósol entstandenen Arbeiten vorwiegend auf einen Einfluß iberischer Skulptur zurückführen. Stattdessen wird nachgewiesen, wie Picasso im entscheidenden Jahr vor den Demoiselles d’Avignon von Stellungen, Körperkanon und Gesten der Figuren Michelangelos fasziniert war. Der Rekurs auf die athletische Extase Michelangelos geschah offensichtlich aus gutem Grund, denn im widersprüchlichen Kontrast von graziler Gebärdensprache und plumper Körperproportionierung der Akte des Jahres 1906 erfüllt sich das heroische Postulat künstlerischer Wahlfreiheit.

Im dritten Teil wird eine zusammenschau von kunstkritischer Diskussion und bildkünstlerischer Produktion vorgenommen. Deutlich wird, wie sich Picasso schon frühzeitig und sehr zielgerichtet als nahezu kunsthistorisch operierender Ikonoklast betätigte. Über seine Dichterfreunde kam er mit den unterschiedlichsten Theorien von einer Autonomie der Kunst in Berührung. Es waren vor allem Kritiker aus den Reihen der französischen Symbolisten, die sich für die romantische Figur des España negra begeisterten. Picasso hat sich die psychologisierende Rhetorik vom furor hispanicus zu eigen gemacht und erfolgversprechend mit der terribilità Michelangelos verknüpft.

So erwies sich der als Überwinder der Renaissance und als Begründer des Barock geltende Michelangelo als idealer Verbündeter in einem titanenhaften Kampf: gegen die klassizistisch dominierte akademische Konvention und für ein bedingungslos subjektives Erleben. Die in der Malerei demonstrierte “skulpturale” Vorherrschaft der Form vor der Farbe war dabei ein entscheidender Faktor, den Picasso bei seiner Konkurrenz mit den Fauves bewußt einkalkulierte.